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"Ich ließ Bach entscheiden, was seine Musik zu sagen hat"

               Christoph Schlüren im Gespräch mit 
                            Renate Eggebrecht

(Juni 2013)


Welche Kriterien bestimmen Ihre Tempi in Bachs Violinsolo-Musik?

Seit meinem 6. Lebensjahr beschäftigt mich Bachs Musik: Zuerst die kleinen Inventionen für Klavier, später die erste Kammermusik bis zur Kunst der Fuge, dann das komplette Wohltemperierte Klavier, die Violinkonzerte, Klavierkonzerte, die großen Chorwerke und vieles mehr. Ich habe Bachs Musik in unseren wunderbar klingenden norddeutschen Kirchenräumen erlebt, als Orgelmusik, Kantaten und Passionen.

Wenn ich nun in meiner Serie VIOLIN SOLO die Sonaten und Partiten von J. S. Bach einspiele, habe ich natürlich eine Tempovorstellung, die sich von frühester Jugend an entwickelt hat. Ich glaube, mit 12 Jahren begann ich die g-Moll Sonate zu erlernen.
Und was habe ich an Interpretationen von „führenden“ Geigern in den vergangenen Jahrzehnten nicht alles gehört!

Ich fange mal ganz von vorne an: Sonate I, g-Moll, 1. Satz Adagio, das vorgezeichnete C bedeutet sehr langsam.

Um die rhythmischen Verhältnisse genau zu klären, entscheide ich mich erst einmal für einen Achtel-Grundschlag. Irgendwann, wenn sich Linienführung und Akkordik zusammen fügen, harmonische Entwicklung zum Ausdruck führt, versuche ich den Temposchlag zu weiten. Den durchgehenden inneren Pulsschlag gebe ich aber nicht auf. Ich übe dabei durchaus mit einem Metronom, um mir einen festen Rahmen zu entwickeln, trotz unerbittlichem Tack-Tack meine musikalische Formung, das innere Singen, nicht aufzugeben. Das ist eine Art Exerzitium, das mich frei macht.

Die vierstimmige Akkordik auf der Geige braucht wegen der Bogenbrechung mehr Zeit als die melodische Linie. Hier muss ich einen metrischen Ausgleich finden, der die musikalische Ordnung unterstützt und klärt. Schon beim Anfangsakkord der g-Moll-Sonate liegt der rhythmische Schwerpunkt auf dem oberen Ton g, der sich zur Linie entscheidet, also breche ich die beiden Unterstimmen ein wenig voraus.

Für die Fugen ein Grundtempo zu finden, braucht Geduld. Die Themen sind noch recht unschuldig, kommen dann aber die großen vierstimmigen Akkordbrechungen hinzu, zeigt sich womöglich, dass das Tempo zu schnell angelegt war. Auch die konzertanten Zwischenspiele haben eine eigene rhythmische Energie, was jedoch nicht zu einem ganz neuen Pulsschlag führen sollte. Auch hier ist das Metronom eine ernüchternde Hilfe. Das Ziel aller Bemühungen kann aber nur sein, dass das Tempo den jeweiligen Charakter eines Satzes mit prägt (was für die verschiedenen Tanz-Sätze der Partiten noch eindringlicher gilt) und weder die große Anlage noch der kleinste Trillernachschlag zu Schaden kommt. Mozart bringt es auf den Punkt, wenn er in einem Brief sagt: „Tempo ist das nothwendigste und härteste und die hauptsache in der Musique.“

Natürlich habe ich die Argumente der historischen Aufführungspraxis studiert und sicher ist auch das eine oder andere davon in meine Interpretation eingegangen, aber im Großen und Ganzen halte ich mich an Friedhelm Krummacher: „Eine analytische Methode, die sich allein auf historische Kategorien zurückzöge, stünde in Gefahr, Bachs Musik in dem Maß zu verfehlen, indem sie nur das anspräche, was auch die Theorie der Bachzeit ansprach. Sie müsste um der historischen Korrektheit willen gerade das übersehen, was an Bachs Musik so neu oder eigenartig war, dass es von der zeitgenössischen Theorie nicht erfasst werden konnte ... Der wissenschaftliche und künstlerische Rang einer Interpretation bemisst sich weniger an ihrer Korrektheit als an dem, was sie am Werk zur Sprache bringt.“ 1)


Wie ist Ihr Ansatz, Ihre Auffassung hinsichtlich der Intonation, und inwiefern hebt sich dies von heutigen Standards ab?

Für das Intonieren auf der Geige genügt eine ‚Auffassung‘ nicht und eine einheitliche Praxis hat es weder in der Geschichte gegeben, noch haben wir sie heute. Mein erster Geigenlehrer hatte als ganz junger Geiger im Leipziger Gewandhaus-Orchester unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler gespielt, sein Vater war dort Konzertmeister. Selbstverständlich intonierten die Musiker damals in der Quint-Terz-Stimmung. Vibrato war nicht erwünscht. Auch Joseph Joachim, bei dem mein Lehrer als Knabe Unterricht bekam, hatte seine Intonation auf dieser Stimmung aufgebaut und gab es so an seine Schüler weiter, die sehr gute Kammermusiker und begehrte Orchestermusiker wurden, vor allem im Orchester der Berliner Philharmoniker, das Joachim aufgebaut hatte.

Mein Geigenlehrer war sehr streng, ich erinnere mich, dass er unerbittlich darauf bestand, dass ich in einer Händel-Sonate den Ton c‘ höher setzen sollte. Mir liefen die Tränen übers Gesicht, aber es gab kein Pardon.

Wenn von „heute üblichen Standards“ die Rede ist, was ist damit gemeint? Moll-Terz tief, Dur-Terz hoch, Quinten unrein (also alles temperiert) und Oktaven gespreizt?
Also nochmal zurück zum Anfang: Sonate g-Moll 1. Satz Adagio, beginnt mit einem reinen g-Moll Akkord, leere G-Saite, leere D-Saite mit dem b‘ auf der A-Saite und dem g“ auf der E-Saite. Man möchte annehmen, dass das tiefe g mit dem hohen g“ einen Gleichklang bilden sollte und mit dem d‘ eine reine Quint. Und sollte nicht das b‘ mit dem unteren d‘ eine kleine Sext bilden, gleichzeitig mit dem hohen g“ eine große Sext und als Krönung dieser inneren Beziehungen könnte so als Ganzes ein kräftiger, sich leuchtend im Raum ausbreitender g-Moll-Klang geboren sein, der aus seiner inneren Kraft eine Linie bildet, die über den Ton f“ abwärts sich biegend in einen Septakkord mit Tritonus-Bildung führt.
Was für ein weicher, sanfter Tritonus mit einem tief gesetzten fis, was will er uns sagen? Aber schon wächst aus dem noch ganz neuen Ton fis‘ eine zweite Linie, die wieder in einen Sept-Akkord mit Tritonus eingeschlossen wird, um sich dann den anderen drei Ton-Kollegen mit einem b-Ton anzuschließen, womit der schon bekannte g-Moll Anfangs-Akkord noch einmal bestätigt wird.

Die Bedeutung dieser aufregenden Geschichte kann nur entdeckt und verstanden werden, wenn dabei die harmonischen Beziehungen so eindeutig wie nur möglich hörbar werden. Ich bin als Interpretin für die Umsetzung dieses notierten Klanggeschehens verantwortlich und habe mich deswegen sehr intensiv mit Intonationsfragen beschäftigt.

Die sogenannte „temperierte Stimmung“ hat in der Tonskala zwischen den einzelnen Tönen immer gleiche Abstände und ist damit ein geschlossenes System. Das führt zu einer leicht verstimmten Quint, zu einer hohen Dur-Terz und Sext sowie zu einer erheblich zu hohen Sept. Diese Stimmung ist nicht geeignet, Bachs äußerst avancierte Harmonik adäquat umzusetzen (Mit nur 12 gleichschwebend festgelegten Tönen wäre der Pionier Bach wohl auch nicht zufrieden gewesen!).
Die „pythagoreische Stimmung“ ist auch in der Dur-Terz zu hoch angelegt und in der Moll-Terz zu tief, hat eine etwas zu hohe große Sext und die Sept ist noch höher als in der temperierten Stimmung.

Im akkordischen Satz gehören reine Dur- und Moll-Terzen unbedingt dazu. Werden neben den reinen Quinten auch die Terzen rein intoniert, nennt man diese Stimmung „Quint-Terz-Stimmung“ oder auch „reine Stimmung“. Sie hat im Vergleich zur „pythagoreischen Stimmung“ eine etwas tiefere Dur- und eine höhere Moll-Terz, sowie eine etwas tiefere Sext und Septime. Das Ohr hört im Sinne der kleinen ganzzahligen Verhältnisse: Kleine Quinten 2:3, reine Quarten 3.4, große Terzen 4:5, kleine Terzen 5:6. (Leopold Mozart hat diese Intonation in seiner ,Gründlichen Violinschule’ von 1756 genau angegeben und seinen Sohn Wolfgang Amadeus in der Weise unterrichtet. Dieser wiederum gab die Erkenntnisse in seinem Theorie- und Kompositionsunterricht weiter, wie es sein Schüler Thomas Attwood aufgezeichnet hat.)

Mit dieser Stimmung können die schwierigsten Wendungen in Bachs harmonischem Kosmos klanglich angemessen umgesetzt werden und vom Hörer erfasst und emotional erlebt werden. Obertöne und Kombinationstöne geben dem Klang Resonanz, Ausdruckskraft und eigenen Charakter. Als Beispiel der Beginn der h-Moll Partita I mit seinem ganz besonderen Klang: Ein inniges Leuchten, fast weiß in seinem Glanz, im Vergleich dazu die triumphierende Leuchtkraft der aufsteigenden Arpeggien in der d-Moll Ciaccona.
Diese Stimmung ist in ihrer zu Grunde liegenden Theorie ein offenes System, das kein eng begrenztes Tonmaterial festlegt und sich bis in die kleinsten Mikrotöne entwickeln kann, wie es Max Reger sagte: „O, es gibt noch viele, viele Nord- und Südpole in der Harmonik!“

Aber nicht nur die Musik von Bach, Reger und Bartók (der sich selbst dazu geäußert hat) ist in dieser Stimmung gut aufgehoben. Genauso ist es heute selbstverständlich mit reinen Obertönen als Flageolett-Tönen zu komponieren, was wir gerade hier in München mit dem Cellokonzert von Unsuk Chin erlebt haben und auch Valentin Silvestrov arbeitet in seinem Postludium für Violine mit diesen reinen Intervallen und Flageoletts.
Alfred Schnittke, der Silvestrov für einen der bedeutendsten und feinfühligsten Komponisten hielt, äußerte sich dazu: „Die Postludien büßen sehr stark ein, wenn sie gut, aber wie allgemein üblich und gewohnt aufgeführt werden. Silvestrov gehört zu denjenigen, die die herkömmliche Auffassung von dem Ton und der Intonationsart bezweifeln, und ich hoffe, dass damit möglicherweise eine Revidierung eingeleitet wird ... Ich nehme an, dass sobald man die Qualität seiner Musik begriffen hat, auch die Bewertung und das Verhalten zu seiner Musik anders werden. In dieser Musik wird sich ein unsichtbares, mit Worten nicht wiederzugebendes Spektrum eröffnen.“ 2)


Wie steht es mit dem Verhältnis von kontinuierlichem Fluss und Tempo rubato in Bachs Musik?

Grundsätzlich ist Fluss und Rubato ja in allen Äußerungen des Menschen vorhanden, sei es Sprache, Tanz oder Musik. In einem Zitat von Leopold Mozart erfahren wir: „...Die Violin ist von dem Orpheus, dem Sohn des Apollo, erfunden worden und die Dichterin Sapho hat den mit Pferdehaaren bespannten Bogen erdacht und war die erste, welche nach heutiger Art gegeiget hat.“

Auf der Geige ist das Rubato ganz und gar eine Sache des Bogens und wenn uns die Dichterin Sapho den Bogen führt, dann hat sie uns damit das Rubato geschenkt. Bach hat dieses Geschenk auf jeden Fall angenommen. Forkel berichtet: „Bey der Aufführung seiner eigenen Stücke nahm Bach das Tempo gewöhnlich sehr lebhaft, wusste aber außer dieser Lebhaftigkeit noch so viele Mannigfaltigkeiten in seinen Vortrag zu bringen, dass jedes Stück unter seiner Hand gleichsam wie eine Rede sprach.“ Bach hat in seinen Sei Solo keine Rubato-Angaben gemacht, Ysaÿe war da etwas vorsichtiger und gibt uns in seinen Sonaten genaueste Rubato-Anweisungen. In Silvestrovs Postludium II ist sein Rubato-Wunsch schon im Titel: Andante, poco rubato, Allegretto, rubato.

Kontinuierlicher Fluss und Tempo rubato sind zwei Kräfte, die sich gegenseitig durchdringen, gerade in Bachs Musik. Ich gebe Ihnen ein Beispiel und gehe noch einmal an den Anfang der Sonate g-Moll 1. Satz Adagio:
Der Anfangsakkord g-d‘-b‘-g“ baut die harmonische Setzung auf, angefangen mit der leeren G-Saite mit ihren Obertönen, die sich mit dem oberen g“ decken, wodurch die G-Saite lange nachschwingt, dazu bringt die leere D-Saite das nächsttiefere G als Kombinationston. So leuchtet das g“ auf der E-Saite und kann sich in Ruhe entscheiden, ob es sich als Linienton weiter bewegen möchte. Aber die sich nun bildende Linie wird auch jetzt von den mitklingenden Obertönen und Kombinationstönen gestützt. Die Spannung, die wir im linearen Verlauf empfinden, beruht auf der harmonischen Entwicklung, die in der nächsten Akkordbildung ihr Ziel hat. Nehme ich mir am Anfang noch etwas Zeit um die nicht erwarteten Tonschritte auf das f“ und es“ singen zu lassen, kann ich die folgenden Töne laufen lassen. Die kleine Umspielung vor dem folgenden dreistimmigen Akkord ist im Grunde ein auskomponiertes Rubato (échapée), das ich unterstütze.

Das Andante in der zweiten Sonate ist ein gutes Beispiel für ein Tempo rubato, bei dem die Begleitstimme im festen Tempo bleiben sollte und die Melodiestimme sich freier bewegen kann. Das wäre mit 2 Händen auf einem Tasteninstrument leichter umzusetzen, auf der Geige ist es für die Bogenhand fast Zauberei. Einige Takte vor dem ersten Wiederholungs-Doppelstrich befreit sich die Linie von der Unterstimme und kann mit einem gut ausgespielten Rubato ein wenig durchatmen. Aber auch in den Tänzen der Partiten finden sich viele Möglichkeiten für ein elegantes Rubato, wie z.B. in der frei schwingenden Überleitungslinie Takt 18-19 der Borea Partita I.

Es würde hier zu weit führen, wenn ich noch mehr Beispiele dieser empfindlichen Interpretationskunst ansprechen würde. Allein die Ciaccona würde uns Stunden kosten, und wie gehe ich mit dem strengen Satz der Fugen um? Richtig ist natürlich: „Was du an Zeit vergibst, musst du wieder reinholen!“
Der große Bachkenner Albert Schweitzer meinte zu diesem Thema: „...Im allgemeinen aber gilt der Satz, dass die Lebendigkeit in den Bachschen Stücken nicht auf der Temponahme, sondern auf der Phrasierung und Betonung beruht. In diesem Sinne möge jeder sich bestreben, ihn recht temperamentvoll zu spielen.“


Bach hat die ,Sei Solo’ als erste Folge für Violine solo bezeichnet. Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, wie es mit einer zweiten Folge hätte weiter gehen können? Ob sie vielleicht sogar geschrieben wurde und verschollen ist?

Ich kenne diese Spekulationen, ich habe sie erst kürzlich in einer Faksimile-Ausgabe des Autographen gelesen. Für mein Verständnis meint diese dem Titel hinzugefügte Bezeichnung‚ Libero Primo eher, dass diese fehlerfreie, sorgfältigst verfasste Handschrift als Vorlage für alle dann entstehenden Abschriften dienen sollte. Max Regers handgeschriebene Druckvorlagen sind übrigens ähnlich genau, mit farbigen Dynamik- und Ausdrucks bezeich nungen. Zu Bachs Zeit hat das Kopieren nach der Handschrift des „Rechteinhabers“ natürlich die gleiche Funktion wie heute der Verlags-Druck.
Die Familie Bach hat ja auch einen Musikalienhandel betrieben.

Wir finden allerdings noch eine wesentlich tiefer gehende Deutung des Titels, die Helga Thoene in ihren 4-bändigen Untersuchungen zu den 3 Sonaten und der Ciaccona an Hand eines Verfah¬rens, Buchstaben in Zahlen umzusetzen, die der Ordnung der alphabetischen Reihe entsprechen und das GEMATRIA genannt wird. Dieses Gematrie-Verfahren ist eine bedeutungsvolle Art der alten Buchstabenmystik, die in zahlreichen jüdischen und griechischen Überlieferungen vorliegt. Die Gematrie geht vor allem aus der jüdischen Geheimlehre der KABBALA hervor. Voraussetzung ist die ursprüngliche Verwendung der Buchstaben als Zahlzeichen. Helga Thoene schreibt dazu unter anderem:

„Bezüglich des Textes stellen sich ohnehin einige Fragen: warum heißt es Sei Solo und nicht Sei Soli? Auch das weniger übliche Libero Primo könnte Prima Parte lauten oder Pars I, wie auf dem Deckblatt der Abschrift durch Anna Magdalena Bach.
Ebenso liest man auf dem Titelblatt den Verfasser »da Joh. Seb. Bach«, hinter dem ersten Sonaten-Titel aber »di J. S. Bach«.
Wurden hier die notwendigen Maßnahmen getroffen, um den gematrischen Zahlenwert 592 zu erreichen?
Die Zahl der PERFECTIO CARITATIS 16 und des CHRISTUS-Monogramms 37 könnten sogar auf einen »Widmungsträger« schließen lassen, für den die Sei Solo bestimmt waren – für CHRISTUS und die Vollkommenheit seiner Nächstenliebe. Eine sprachlich genaue Übersetzung des italienischen Titels Sei Solo würde lauten: Du seiest der Einzige.

Hören Sie anhand dessen, was wir inzwischen darüber wissen können, während des Spiels die Abfolge der zugrunde gelegten Choraltöne? Und falls ja, wie wirkt sich das auf die Gestaltung aus?

Ich lese keine wissenschaftlichen Arbeiten vor einem Konzert oder während der Vorbereitung einer Aufnahme, das würde meine innere musikalische Phantasie doch zu sehr blockieren. Nach der Aufnahme, ein Fest der intimsten Beziehung zu Bach, setze ich mich gerne mit einem aufregenden Buch hin und prüfe, ob mein klingender Weg der wissenschaftlichen Sichtweise standhält. Die Forschungen von Helga Thoene sowohl zu der „Zahlensemantik“ als auch zu dem Bauelement „Choral-Zitate“ sind natürlich faszinierend. Bach schmilzt das ‚Schlichte und Niedrige des Kirchengesangs‘ in seinen reichen musikalischen Kosmos mit ein und hat so mit zahlreichen kompositorischen Mitteln eine Sonaten-Architektur errichtet, in der die Inkarnations-Sonate g-Moll, die Passions-Sonate a-Moll und die Pfingst-Sonate C-Dur zur Einheit werden. In dieser Einheit aber werden sie zum Spiegel der „Dreifaltigkeit“. Sie sind vereint im Lobpreis auf die Trinität »In Nomine Sanctissimae Trinitatis«.
Auch konnte Thoene anhand der Choralzitate nachweisen, dass in der Ciaccona „Tod und Auferstehung“ das verborgene Thema ist (als Gipfelpunkt des Stückes die „Auferstehungs“-Arpeggien der 12. Variation mit dem eingeschlossenen BAxCH Emblem). Dieser „Tanz“ wurde als „Tombeau“ für Bachs 1720 verstorbene Frau Maria Barbara Bach geschrieben, als „klingendes Epitaph“ zu ihrem Gedächtnis. Bach hat ihren Namen kryptographisch, also verschlüsselt in den Beginn der Ciaccona eingraviert.

Die bewusst nicht hörbaren, wortlosen Choral-Zitate sind ablesbar, auch für Interpreten sind sie im gesamten musikalischen Geschehen versteckt und doch wird sich das eigene innere Hören im Wissen um dieses christliche Stil-Ideal ändern, sodass sich eine allzu egozentrische und äußerliche Darstellung der Sei Solo von allein verbietet. Die Gestaltung der klingenden Musik speist sich allerdings noch aus anderen Quellen.
Hier müssten wir uns eigentlich über die „Theologia crucis“, dem Zeichen vom Kreuz, das für Cruciger Bach zum zentralen Baustoff dient, unterhalten. Das würde jetzt allerdings zu weit führen, deswegen jetzt nur ein Wort Schweitzers über Bach als Mystiker: „...Wie eine Fuge Bachs ihrer Form nach dem 18. Jahrhundert angehört, ihrem Wesen nach aber zeitlose musikalische Wahrheit ist, also findet sich die Christus-Mystik aller Zeiten in der paulinischen als ihrem Vorbild wieder.“

Interessant ist, dass Thoene in ihrer Darstellung „Drei Sonaten im Zeichen des Monogramms XP“ die Arbeit von Günter Hartmann über Die Tonfolge B-A-C-H. Zur Emblematik des Kreuzes im Werk Joh. Seb. Bachs ergänzen kann. Nach Hartmann ist das BAxCH-Emblem mit dem Zeichen vom Kreuz in allen seinen möglichen Setzungen und Transponierungen die Grundzelle in Bachs Musikschöpfungen. Hartmann kommt allerdings zu einer eigenen Sicht:
Hier hilft uns W. Bousset kommentierend weiter: Es handelt sich bei dieser Chi-Figur...um die zwei großen Himmelskreise, den Äquator und die Ekliptik, die, in den Äquinoktialpunkten sich schneidend, in der Tat das große CHI am Himmel bilden. Auch D. Wyrwa weist darauf hin, dass nach dem Apologeten Justin der Logos-Christus... der Diener des väterlichen Willens ist; er vollzieht den Willen Gottes gegenüber der Schöpfung, indem er sich in die Schöpfung einlässt... Andeutungsweise hat Justin den königlichen Geist, der das All regiert und die Weltseele mit ihrer so auffälligen Gestalt eines aus Himmelsäquator und Ekliptik gebildeten CHI mit dem Logos-Christus parallelisiert.

Christus ist also X-immanent in Gottes Schöpfung wirksam, ja er bestimmt dadurch selbst die Bahnen für Fixsterne und Planeten, also auch für die Erde. Er ist die Ursache für die Erhaltung der Welt in ihrer gesetzten Ordnung und Harmonie.
Wie in der Anschauung der apologetischen Kirchenväter den Kosmos der Schöpfung Gottes, so durchdringt das Zeichen vom Kreuz, das X, der Logos-Christus das Opus der Musikschöpfungen Bachs: repräsentiert durch das Emblem BAxCH, so wie es sich im Kanon BWV 1077 mit seinen Worten Christus coronabit crucigeros und den darin eingesenkten Platonischen Timaios-Lambdoma-Zahlen darstellen wird.
Bach also erschuf in der Tat eine einzigartige Musik elementarer Welterfahrung, die sich allerdings nicht – wie es Theologen so gerne sähen – mit harmonischer, spätorthodox-barocker Zahlhaftigkeit als Symbol begnügen wird –
im Gegenteil: e r  w i r d  s i e  s p r e n g e n.  4)


Sind die von Bach in der Handschrift angegebenen Bindungen unanfechtbar, oder sehen Sie zum Teil dem musikalischen Charakter und Fluss angemessenere Lösungen?

Bachs Phrasierungen gehören zum Bau seiner Komposition und sind überhaupt nicht in Frage zu stellen. Ich bin es, die den Sinn dieser mit ausdrucksvoller Handschrift gesetzten Bindebögen zu erfassen hat. Charakter und Fluss sind nicht die einzigen Kriterien für eine Bindung, ebenso könnte ein Tempostau das Ziel sein oder rhythmische Klarheit. In den Sei Solo sind die Möglichkeiten mit Bindungen musikalisch zu arbeiten unendlich, immer wieder entdeckt man neue Beziehungen, die den Satz lebendig machen. Als Beispiel nehme ich mal die Allemanda der Partita II, in der viele verschiedenartige Bindungen zu finden sind: Manche möchten vorwärts gehen, andere stauen ein wenig, manche betonen die Stimmführung oder die Phrasierung wird so groß angelegt, dass das Grundmetrum für kurze 2 Takte (T.9 - 10) überwunden wird. Allerdings wird es sofort wieder mit Bindungen stabilisiert, die den Taktschlag festigen. Eine gebundene Linie trägt sehr oft in sich eine latente Mehrstimmigkeit, die ich unter einem Bindebogen hörbar machen muss.

Am Anfang der Sonate II Grave ist sehr gut zu hören, wie das gebundene lineare Geschehen in die akkordische Setzung als Ziel gleitet. Die Ausdruckskraft der gebundenen Linie wird von harmonischen Zusammenhängen und der latenten Mehrstimmigkeit gestützt. Ein Höhepunkt dieses Zusammenwirkens mehrerer Funktionen, wie akkordischer Zusammenhalt und gleichzeitiger Stimmführung mehrerer gebundener Linien, ist wohl am deutlichsten in der Ciaccona zu hören: Größte Vielfalt schafft Zusammengehörigkeit und Fluss, alles mit einem Bogen!
Wenn wir von Bindungen sprechen, müssen wir natürlich auch die Begriffe der Bogentechnik nennen, die Bach gerne benutzt hat. Dazu gehört ondeggiano (ondulé), hier werden Töne, die eigentlich auf einer Saite ausgeführt werden könnten, auf 2 Saiten gespielt. Wenn dabei einer der Töne auf eine leere Saite fällt, wird dieser Klangeffekt mit bariolage bezeichnet. Bach hat diese Spielart im Preludio der Partita III angewendet: immer ist eine angedeutete gebundene Linienführung, eingebettet in eine harmonische Kadenz, zu hören. Bachs Meisterwerk Sei Solo bogentechnisch zu meistern ist eine Herausforderung!

Sollten die dynamische Amplitude, klangliche Dichte und artikulatorische Schärfe relativ streng auf die Möglichkeiten der damaligen Instrumente bezogen dargestellt werden, oder sehen Sie die Musik in ihrer Entfaltung weniger abhängig von den Eigenschaften der originalen Instrumente als heute von der Musikwissenschaft postuliert wird?

Seit mehr als 60 Jahren arbeite ich fast jeden Tag mit meiner Geige, um meine eigenen Möglichkeiten mit diesem unerschöpflichen Instrument, alle meine inneren Vorstellungen in lebendigen Klang zu verwandeln, wobei die Frage nach der Bedeutung des historischen Instrumentariums immer mit eingeschlossen ist. Die „Wahrheit“ der Bachschen Musik hängt allerdings nicht von den Eigenschaften der Originalinstrumente ab, ganz im Gegenteil, kann damit auch unsere eigene unbedingte Beziehung zu dieser universalen Musik verhindert werden. Die „historischen“ Einflüsse in Bachs Musik sind auch für mich interessant, aber die Aufgabe des Musikers ist es doch zu ergründen, was uns die Musik heute, jetzt, bedeutet. (Das Wort „Interpret“ ist hier eher unangebracht.) Wir können uns nicht um das eigene Suchen, Werten, Denken und Fühlen anhand der „originalen Aufführungspraxis“ drücken. Mit der Frage, was bedeutet dieser Klang, diese Linie, dieser rhythmische Gang, muss ich die Bachsche Welt in mir wachsen lassen, das geht auch mit heutigen Geigen.
Mein eigenes Instrument ist nicht „jung“, aber in einem sehr guten Zustand. Auch heute gebaute Geigen sind ja in ihrer Form „historisch“ und klingen oft sehr gut.

Die Entwicklung des Geigenbogens hat übrigens eine genauso wichtige Bedeutung für die Klangmöglichkeiten. Ich spiele mit einem etwas älteren Bogen mit dem ich meine musikalischen Vorstellungen ideal umsetzen kann. Die Bogenhand sollte jede innerlich gehörte Nuance direkt umsetzen, ohne Befehl, ohne Diskussion, sie atmet, spricht, singt, leidet, entscheidet und hat den Klang „in der Hand“. Ich denke, dass wir mit unserem heutigen Werkzeug sehr weit kommen können.

Für den Spieler ist es am wichtigsten, dass seine Geige optimal eingestellt ist, das heißt: Der Steg darf nicht zu dick und nicht zu dünn sein, er muss absolut perfekt zwischen Bassbalken und Stimme stehen, die Saiten sollten genau zu dem Instrument passen und auch der Kinnhalter, der Feinstimmer und die Schulterstütze haben Auswirkungen auf den Klang. Wenn also das Instrument ideal ausbalanciert ist, kann ich eigentlich alle Klangvorstellungen hervorzaubern und mir meinen Bach-Klang entwickeln. Das ist die eigentliche Herausforderung und ein langer Arbeitsprozess.
Das innere Hören jedes Akkords, jedes Einzeltons in seinen Beziehungen, sollte sich vom Autograph her entwickeln. Dies ist am Ende, was wir „üben“ nennen und dergestalt sind auch Kriterien wie dynamische Amplitude, klangliche Dichte und artikulatorische Schärfe in diesen Entwicklungsprozess der musikalischen Aneignung eingeschlossen.

Ich hatte das Glück, dass ich mit guter Vorbildung und selbstverständlichem Umgang mit historischen Tasten-, Blas-, und Streichinstrumenten mit 12 Jahren anfangen konnte, mich auf dieser Basis in Bachs Sei Solo einzuarbeiten und so bis heute immer höher, tiefer und weiter in dieses Universum eingetaucht bin. Hinaus kommt man da ja sowieso nicht mehr! Wir sollten auch bedenken, dass Bach die „barocke“ Harmonik längst hinter sich gelassen hat und mit seinem kompositorischen Bauen mit dem BAxCH Emblem weit in die Chromatik vordrang – man hat ja schon in Bach-Kompositionen Vorstufen des Tristan-Akkords nachweisen können.
Ich meine, wir Musiker müssten uns nicht so sehr mit barocker „Figurenlehre“ oder anderen „Gesetzestafeln“ plagen, sondern sollten vor allem unsere inneren und äußeren Ohren weit auf-machen für die Offenbarungen dieser zeitlosen Musik!

Nun zu Ihrer Frage nach der Dynamik, Dichte und Schärfe. Bach hat in den Sei Solo nur sehr wenige dynamische Angaben gemacht. Wir finden diese im letzten Satz der Sonate II, sowie in der Partita III im Preludio, der Bourrée und in der Gigue, alles reine Terrassendynamik.
Die dynamische Lebendigkeit sollte sich an den Satzbau schmiegen, den ich nicht nur theoretisch sondern hörend erlebe. Mit feinsten dynamischen Abstufungen werden Stimmführungen verdeutlicht und nicht zuletzt muss ich für jeden Satz dieses Zyklus‘ eine Lautstärke finden, die dem Charakter entspricht. Diese suchende Arbeit ist gerade für die Ciaccona so wichtig, denn jede Variation muss hier ganz zu sich selber kommen und gleichzeitig die große Entwicklung mit tragen, was unbedingt von der Dynamik unterstützt werden sollte. Und auch in jeder Fuge entsteht fast von selbst eine starke dynamische Kraft, die aber jeweils einen anderen inneren Sinn und Ausdruck bedeutet.

Die artikulatorische Klarheit ist eine Sache der Bogenarbeit, mit der im Grunde die komplette Analyse des Notentextes umgesetzt wird. Wenn ich ein schematisches, undifferenziertes und seelenloses Musizieren vorziehen wollte, wäre die Bogenführung nur ein immerwährender Auf- und Abstrich. Wenn ich aber die Fähigkeit zu einer „Artikulation“ aufbauen will, die „sprechen“ kann, scharf, weich, leicht, energisch, brutalement (Ysaÿe), oder verlöschend (Silvestrov), dann ist das eigentlich die anspruchsvollste Funktion der Bogenführung. So ist es für mich nicht so wichtig, ob ich mit einem „Barockbogen“ oder mit einem jüngeren, moderneren Bogen, der etwas mehr Druck verträgt, arbeite. Wichtig ist es für mich, dass ich den Notentext mit all seinen Geheimnissen erkenne und mit meinem geliebten Bogen umsetzen kann.

 
Wie ist Ihre ganz persönliche Beziehung zu den Meisterwerken Bachs?

Meine Kindheit war durchdrungen von Bachs Musik. Jedes Jahr hörte ich mit meiner Mutter und meinem Bruder das Weihnachtsoratorium und die Matthäuspassion in unserer Eutiner Kirche.
Heute habe ich das Gefühl, als gäbe es keine eindringlicheren Aufführungen dieser Meisterwerke als jene, die mich damals als Kind ergriffen haben. Ich höre heute in Bachs Siciliano der 1. Sonate den rhythmischen Anklang an die Sinfonia des Weihnachtsoratoriums und im jetzigen Wissen um das Choralzitat „O Haupt voll Blut und Wunden“ als Bauelement in der Passions-Sonate trage ich gleichzeitig diesen „Kreuzweg“ der Matthäuspassion schon seit meiner Kindheit als innere Erschütterung in mir.
Meine Füße berührten noch kaum den Boden, als ich im Konzertsaal in der ersten Reihe saß und meiner Mutter als Blockflötistin im 4. Brandenburgischen Konzert zuhörte. Als ich später die Sologeige genau in demselben Werk spielte, war dieses frühe Erlebnis der musikalische Ausgangspunkt.

Meine Mutter war mit dem Blockflötisten Ferdinand Konrad und seiner Frau, einer Cembalistin, befreundet und sie waren oft bei uns zu Gast. Ich hörte ihnen beim Singen und Musizieren zu und lernte so, wie vielfältig und lebendig die „alten“ Instrumente klingen, wenn sie von Meistern gespielt werden. Dazu gehörte auch der Gambist August Wenzinger, der mit meiner Mutter und Freunden im Gambenquartett Bachs Kunst der Fuge erarbeitete. Ich hörte bei den Proben zu und war gefesselt von seinem Spiel und seinen Anweisungen. Immer wieder ging es um die Handhabung des Gambenbogens mit der fast körperlichen Vorstellung „Luft“ unter den Bogenhaaren zu haben, er verlangte leichte, elegante Auftakte und einen transparenten Klang. Sein Spiel ist immer noch in meinem Ohr und als Erinnerung an diesen feinen Musiker habe ich seinen „luftigen“ Strich für die Fugenthemen der ersten und dritten Bach-Sonate angewendet.
 
Gleichzeitig zu diesen Einflüssen baute ich mir meine eigene Beziehung zu Bach auf. Mein Klavierunterricht begann früh und für ein sehr junges Kind sind schon die Inventionen „Meisterwerke“. Bald musste ich das erste C-Dur Präludium des Wohltemperierten Klaviers üben, blätterte schon mal zur ersten Fuge um und spürte diesen grundsätzlichen Anspruch, den alle Meisterwerke Bachs in sich tragen.

Mit zwölf Jahren begann ich als Jungstudentin an der Lübecker Musikakademie eine Ausbildung in den Fächern Klavier, Geige und Orchester. In der norddeutschen Buxtehude-Stadt war Bach das tägliche Brot, ich glaube es gab keinen Tag, an dem ich mich nicht mit Musik von Bach beschäftigt habe, nicht nur übend, sondern auch neugierig vom Blatt spielend, nicht nur allein, sondern im Duo mit meinem Bruder (er begleitete mein Geigenspiel und ich sein Cellospiel, auch am Cembalo), im Streichquartett oder im Akademieorchester.

Mein Bruder hatte für unser Musikzimmer eine Orgel gebaut, so konnte ich zu Hause Bachs Choralvorspiele üben. Ich wollte damals unbedingt auch mit den Füßen Musik machen. Bei unseren Kammermusikfreunden, deren Vater Pastor war, konnte ich auch in der Kirche an einer „richtigen“ Orgel spielen. Diese Klangerfahrung überwältigte mich und sie ist für mich bis heute zentral.
Ich spreche so ausführlich über mein frühes Bach-Leben, weil hier ein musikalischer Grundstein für meine weitere auch kritische Auseinandersetzung mit der allgemeinen Bachrezeption gelegt wurde.

Als ich das Streichquartett Es-Dur von Fanny Mendelssohn mit meinem Quartett einstudierte und gleichzeitig für die Erstveröffentlichung vorbereitete, kam ich mit der Komponistin ins ‚Gespräch‘ über Johann Sebastian Bach, seine ‚romantische‘ Harmonik, seine Choralsätze und über sein Wohltemperiertes Klavier, das sie schon als Elfjährige im Kopf und in den Händen hatte. Ich lernte so von „ihrem“ Bach!

Mit Max Reger konnte ich mich über Bachs Chromatik unterhalten, als ich seine 11 Solo-Sonaten inklusive 3 Chaconnen, sowie die 14 Präludien und Fugen für eine Gesamtaufnahme erarbeitete. Für Reger war Bach „Anfang und Ende der Musik“.

Mit meinem Editionsprojekt VIOLIN SOLO begannen intensive ‚Bach-Gespräche‘ mit Komponisten der Moderne, wie Bartók, Vieru, Bloch, Schnittke, Bacewicz, Denissow, und vielen mehr. Jeder hat eine ganz eigene Bach-Beziehung, die in seine Komposition eingeflossen ist. Ich musste Bach nicht suchen, er berührte mich direkt in seiner Präsenz. Es war, als wäre Bach lebendig, wie immer schon.
Diese musikalischen Erfahrungen sind in die Erarbeitung der Sei Solo eingeflossen. Ich blieb mit all meinen Komponisten-Freunden im Gespräch und ließ Bach entscheiden, was seine Musik zu sagen und zu bedeuten hat.

Welchen Musikern aus Vergangenheit und Gegenwart verdanken Sie substanzielle Anregungen?

In größter Dankbarkeit möchte ich zu allererst meine Mutter nennen, die mich ab dem 4. Lebensjahr mit Achtsamkeit und Geduld in die elementaren Grundlagen der Musik hineingeführt hat. Sie hat sowohl meine musikalische als auch meine bildnerische Begabung intensiv gefördert und gestützt.
Auf ihre Anregung hin habe ich zusammen mit ihren Schülern „alte“ Instrumente gespielt, Blockflöten, Krummhorn, Zink, Dulzian, Psalter und sogar ein Trumscheit. Ich konnte im Kammerchor „alte“ Musik singen, von Heinrich Isaacs Ricercar bis Monteverdis Marienvesper, auch lernte ich „alte“ Kontertänze.

Meine Mutter hatte einen Schrank voller Noten, darunter war auch die gesamte klassisch-romantische Streichquartett-Literatur. Zusammen mit meinem Bruder brauchte ich nur noch zwei meiner Musik Freunde einzuladen und schon spielten wir alles, was wir nur unter die Finger bekamen voller Begeisterung vom Blatt bis spät in die Nacht.

Bei meinem Klavierlehrer Wilhelm Rau konnte ich eine ausgefeilte Technik aufbauen und gleichzeitig ein systematisches, kritisches Üben lernen. Ich beziehe mich noch heute auf seine Forderungen, sei es nun zu Chopin oder Bach. Mit den Klaviertasten zu ‚singen‘ ist fast noch schwieriger als mit dem Geigenbogen! Dieser Lehrer regte mich an, bei harmonischen Gängen Farbvorstellungen zu entwickeln, wir begannen dies mit einer Beethoven-Sonate. Auch forderte er mich auf, ihm über Konzerte die ich gehört hatte, einen kritischen Bericht zu geben. So habe ich mit ihm über meine Eindrücke vom Spiel der sehr jungen Pianisten Christoph Eschenbach und Justus Frantz gesprochen, aber auch über einen Liederabend mit dem Sänger Dietrich Fischer Dieskau, ein Konzert der Musici di Roma oder über die Berliner Philharmoniker mit Brahms unter der Leitung des noch jungen Karajan. Mein Lehrer schmunzelte dann nur, wenn ich recht kritisch berichtete.

Irgendwann wollte ich weiter in die Welt hinaus und wechselte zu einer größeren Hochschule. Die weitere Ausbildung dort im Hauptfach Geige war eine sehr dünne Suppe, die für mich ein regelrechter Zeitverlust war, ein Lehrgang zum Thema: „Wie will ich es nicht machen!“
Ich war sehr verzweifelt und suchte nach Anregungen außerhalb dieses Betriebs. Durch Mundpropaganda erfuhr ich von einem Pädagogen, der einen neuen Ansatz zur Technik des Geigenspiels vermittelte. Ich begann bei diesem Lehrer eine Privatausbildung, die mich nun endlich dahin brachte, wo ich mit der Geige hin wollte: eine völlige Verschmelzung von musikalischer Vorstellung und körperlicher Umsetzung mit dem Instrument. Beides muss immer wieder erarbeitet und weiter entwickelt werden, aber Prof. Wolfram König hat mir das spieltechnische Fundament für alle meine musikalischen Ansprüche vermittelt, wofür ich ihm dankbar bin!

Meisterkurse beim LaSalle Quartett haben mir weniger Anregung gebracht als das vollkommene Zusammenspiel des Borodin Quartetts, wobei ich natürlich vor allem von dem Primarius Rostislav Dubinsky hingerissen war. Ein Haydn-Quartett so wunderbar schwebend und mit vollkommener Bogenführung, die Bagatellen von Anton Webern tief konzentriert, ein neues Zeiterlebnis, und dann ein Tschaikowsky-Quartett in allen Facetten des Ausdrucks mit singender, genauer Artikulation, mit musikalischer Klugheit, durchhaucht von Leben! Nach dem Konzert konnte ich mit Herrn Dubinsky sprechen und ihm danken. Dieser Geiger bleibt mir immer gegenwärtig!
 
Drei Musiker möchte ich noch nennen, die mir klar gemacht haben, was Musik sein sollte: Count Basie, Duke Ellington und Ella Fitzgerald. Ich konnte diese Künstler in München mehrmals erleben und immer waren wir, also der gesamte Saal, völlig aus dem Häuschen! Wenn das nicht ‚substanziell‘ war, was dann?

Ich bin sicher nicht die einzige Geigerin, die sich von Sängern inspirieren lässt. Die phänomenale Maria Callas fesselte mich schon in jungen Jahren und diese Bewunderung ist bis heute lebendig. Was können wir Streicher nicht alles von ihr lernen: intensivste Tongebung, die größten Atembögen, hingebungsvoller Ausdruck in allen Farben der Tongebung und, und, und ...
Niemand ist der Sängerin mit Worten so nahe gekommen wie Ingeborg Bachmann in ihrer Hommage á Maria Callas:

"...Maria Callas ist kein ‚Stimmwunder‘, sie ist weit davon entfernt, oder sehr nah davon, denn sie ist die einzige Kreatur, die je eine Opernbühne betreten hat. Ein Geschöpf, über das die Boulevardpresse zu schweigen hat, weil jedes seiner Sätze, sein Atemholen, sein Weinen, seine Freude, seine Präzision, seine Lust daran, Kunst zu machen, eine Tragödie, die zu kennen im üblichen Sinn nicht nötig ist, evident sind. Nicht ihre Koloraturen, und sie sind überwältigend, nicht ihre Arien, nicht ihre Partnerschaft allein ist außerordentlich, sondern allein ihr Atemholen, ihr Aussprechen. [---] Sie wird nie vergessen machen, dass es Ich und Du gibt, dass es Schmerz gibt, Freude, sie ist groß im Hass, in der Liebe, in der Zartheit, in der Brutalität, sie ist groß in jedem Ausdruck, und wenn sie ihn verfehlt, was zweifellos nachprüfbar ist in manchen Fällen, ist sie noch immer gescheitert, aber nie klein gewesen. Sie kann einen Ausdruck verfehlen, weil sie weiß, was Ausdruck überhaupt ist. ...
Sie war, wenn ich an das Märchen erinnern darf, die natürliche Nachtigall dieser Jahre, dieses Jahrhunderts, und die Tränen, die ich geweint habe – ich brauche mich ihrer nicht zu schämen. Es werden soviel unsinnige geweint, aber die Tränen, die der Callas gegolten – sie waren so sinnlos nicht. Sie war das letzte Märchen, die letzte Wirklichkeit, deren ein Zuhörer hofft, teil¬haftig zu werden. [---] Es ist sehr schwer oder sehr leicht, Größe anzuerkennen. Die Callas – ja, wann hat sie gelebt, wann wird sie sterben? –"  5)

Was hat Sie bewogen Valentin Silvestrovs Postludium II als Epilog zu Bachs Sonaten und Partiten zu verwenden und wo steht für Sie Silvestrovs Musik im Kontext der Geschichte und des heutigen Tonschaffens?

Die erste CD meiner Edition VIOLIN SOLO beginnt mit den letzten Takten der Bachschen Ciaccona, leise eingeblendet entwickelt sich der Klang als käme er aus „alten Zeiten“. Danach erklingt Regers Chaconne op. 117 als eine Gegenwart des 20. Jahrhunderts, die Bachs Musik in sich aufgenommen hat. Auch die weiteren Werke, die in dieser Edition vorgestellt werden, haben unüberhörbar eine Beziehung zu Bach. Ich stellte mir vor, dass Bach nun in der letzten, siebten Folge „selbst“ in seiner ganzen Dimension gegenwärtig werden soll und neben sich noch einen Freund findet, der mit seiner Musik vertraut ist. Ich habe sehr viele heutige Kompositionen geprüft, ob sie für diese anspruchsvolle Platzierung geeignet wären und habe mich für Silvestrovs Postludium, sein „Nachspiel“ entschieden. Es ist das zweite Postludium in einem Kammertriptychon.
Juri Cholopow schreibt: „Die musikalische Tradition Russlands wurzelt in der europäischen Tradition. Jeder Musiker beginnt sein Musikstudium mit Beethoven-Sonaten und Bach-Fugen“.

Silvestrov ist ein Bachkenner - zwei seiner Werke zeigen schon im Titel seine enge Beziehung: In memoriam J.S.B. 2004 und Hommage à J.S.B. 2009. In seinem Postludium II ist Bachs Schatten durchgehend musikalischer Baustoff: Dur-Dreiklänge als triolische Ganztonketten tragen Assoziationen von Bachs Orgeltoccata d-Moll in sich, dann wieder Sextakkorde als Ganztonketten oder vermischte Dreiklangketten, auch hier wieder ein mir vertrautes Echo: weht es vom Präludium Nr. 6 des Wohltemperierten Klaviers zu mir? Aus welcher „verlorenen Zeit“ beginnt das Postludium II in archaischen Quinten, poco rubato, dolce? Ist es eine canzona da sonar mit ihren charakteristischen Parallelführungen, oder erlebe ich in dem gedämpften Pianissimo eine Klangreduktion, die mir von Webern vertraut ist, genauso wie die schwebende rhythmische Ordnung? Und berührt mich in Takt 24 nicht als leise Andeutung Beethovens Welt?
Im ungedämpften Allegretto ist nun deutlich das Beethoven-Motiv d“ – a‘ aus dem ersten Satz der 9. Sinfonie zu hören, das in allen dynamischen Varianten bis zur leisesten Schlussbildung im Postludium II lebt und verweht – Es entsteht die Vorstellung eines klingenden Raums, in dem die Musik der Freunde nicht verstummt und wo auch Silvestrov zu Hause ist.

Ging es nicht auch Robert Schumann so, dass er von Bach nicht lassen konnte? „In der höchsten Art der Musik wie sie uns Bach und Beethoven in einzelnen Schöpfungen gegeben“, meinte er, „poetische Tiefe und Neuheit überall, im Einzelnen wie im Ganzen“ zu entdecken. „Das Tiefcombinatorische und Poetische der neueren Musik hat ihren Ursprung aber zumeist in Bach...“
Sicher würde auch Fanny Mendelssohn in diesem „poetischen Raum“ mit ihren Lied-Vertonungen von Eichendorffs Gedichten "Anklänge" gern gehört werden: ...Sind denn nicht die Farben Töne / und die Töne bunte Schwingen?

Beim Postludium II ist die Verwandtschaft der Künste Musik, Poesie und Malerei bei der Umsetzung des akribisch notierten Notentextes eine Quelle der Inspiration. Der Anspruch auf unendlich viele dynamische Schattierungen im piano-Bereich und die Anweisungen wie sul tasto, leggiero, senza vibrato, accelerando, ritardando und viele mehr gleichzeitig umzusetzen ist ein geigerischer „Parcours“. Anders als bei Bach musste ich hier geduldig warten bis die Töne zu mir kommen, zu mir sprechen in ihrer zerbrechlichen „schwachen“ Existenz (Silvestrov). Die Musik entsteht wie von selbst im Jetzt, fast absichtslos, nichts vorher wissend. Es gibt nur angedeutete Taktstriche, die Zeit befreit sich von der Gängelung des Metrums, sie definiert sich neu, die Pausen-Zeit baut die Strukturen. Kleine rhythmische Figuren entstehen und verlöschen. In dieser Stille ist Raum für „Nachklänge, ...klingende Pausen. Die Musik verschwindet nicht, sie klingt im unsichtbaren, unhörbaren Raum weiter“ (Silvestrov).

In den Allegretto-Abschnitten ist der Klang nicht gedämpft und das piano entwickelt sich in dynamischen Wellen bis zu einem fortissimo-Motiv. In der genauen Erarbeitung der Tempo-, Dynamik- und Agogik-Anweisungen, der Mehrstimmigkeit mit ihren Intervallbildungen (wobei die reinen Quinten durchgehend Baustein sind) entsteht eine innerlich wachsende Vorstellung einer neuen musikalischen Realität, eines mitschwingenden „semantischen Obertons“ wie Silvestrov sagt.
Am Ende noch einmal eine Reminiszenz aus dem Anfangs-Andante, ein Flageolett, sul tasto im vierfachen piano, ein Abschied vom Beethoven-Motiv und dieser Ton b‘ sul tasto im dreifachen piano mit dem extremen Wunsch um ein dolcissimo, ein Klang „jenseits der Musik“ (Silvestrov).

Ist dieser Ton ein Abschied, ein Verwehen der Musik in eine Zukunft, oder verwandelt er sich in den 12 Sekunden seines Abklingens in ein Gewesenes?

München, Juni 2013

Anmerkungen / Notes
1) Friedhelm Krummacher: Bachs Vokalmusik als Problem der Analyse, Bachforschung und Bachinterpretation heute S.108, Neue Bachgesellschaft Leipzig 1981
2) Alfred Schnittke: Über das Leben und die Musik, Gespräche mit Alexander Iwaschkin S.129, Econ Verlag, München-Düsseldorf 1998
3) Helga Thoene: Cöthener Bach-Hefte 7 S.17, Köthen 1998
4) Günter Hartmann: Die Tonfolge B-A-C-H. Zur Emblematik des Kreuzes im Werk Joh. Seb. Bachs S. 306, Orpheus Verlag, Bonn 1996
5) Ingeborg Bachmann: Hommage à Maria Callas (Entwurf), Werke 1-4, R. Piper & Co. Verlag

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