Wer sich mit der „reinen harmonischen Stimmung“ (Quint-Terz-Stimmung auf der Geige vertraut gemacht hat, der kann erkennen, dass in der Normalstimmung g-d'-a'-e'' die Tonarten G-Dur, D-Dur und B-Dur sowie g-Moll und h-Moll auf der Geige besonders leicht spielbar sind und auch besonders gut klingen, weil ihre Haupttöne in den Leersaiten verankert sind (ich möchte hier auf die Arbeit von Jutta Stüber „Die Intonation des Geigers“ hinweisen).
Um 1700, auf dem ersten Höhepunkt des Geigenspiels in Deutschland war die heutige Normalstimmung nur eine von vielen. Der Geiger stimmte sein Instrument von Tonart zu Tonart um; er stimmte die vier Saiten so ein, wie es für die gewählte Tonart besonders günstig war. Joachim Quantz beschreibt die Praxis der Zeit: Sie setzeten viele Stücke, wozu die Violinen umgestimmt werden mußten. Die Saiten wurden nämlich, nach Anzeige des Componisten, anstatt der Quinten, in Secunden, Terzen, oder Quarten gestimmet; um die Accorde desto leichter zu haben.
Der Schwiegervater Telemanns, Daniel Eberlin, stellte für die Violine 2000 Skordaturen auf.
In der 2.Hälfte des 17.Jahrhunderts hatte der Salzburger Kapellmeister Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) den Ruf als einer der größten Geiger des Jahrhunderts, was er vor allem dem Gebrauch von Skordaturen verdankte; dem Ausnutzen der spieltechnischen Vereinfachungen und der klanglichen Vorteile, die die Skordatur anbietet.
Biber benutzte für die berühmten 16 Mysteriensonaten 15 Einstimmungen:
Dorisch a-Dur, h-Moll, dorisch a-Dur, c-Moll, f-Dur, b-Dur, a-Moll, g-Moll,
d-Moll, g-Dur, c-Dur, d-Moll, d-Dur, c-Dur (die Sonaten 1 u. 16 in unserer heute üblichen Quintstimmung g-d-a-e).
Als Beispiele:
In der 11.Sonate wird die a-Saite auf g’ und die e-Saite zu d’’ hinunter gestimmt. Diese Einstimmung hat zwei Oktaven! Also geht’s in dieser Sonate um Oktavläufe, die nun wesentlich leichter als gewöhnlich mit einem Barré-Griff zu bewältigen sind.
Oder in der 13.Sonate in d-Moll mit ihrer in den Leersaiten liegenden kleinen Terz sind die Terzketten ein Kinderspiel, brauchen wir doch nur den Quintgriff mit 1. und 2. Finger im Wechsel mit den leeren Saiten.
Die Geiger können prima vista sauber und fehlerfrei spielen. Analog können die Sexten gespielt werden:
Das Legato ist einfach zu realisieren und Nebengeräusche sind ausgeschaltet.
Auch in der 15.Sonate in C-Dur liegen in der Skordatur die Quinttöne c-g-d in den leeren Saiten, was besonders günstig ist, weil dadurch die gewöhnlich etwas zu hohe
e-Saite vermieden wird.
Martin Vogel dazu: Das lästige Umstimmen wurde durch die erzielten Vorteile mehr als aufgewogen: die Griffe wurden leichter, einige Doppel- und Trippelgriffe wurden nun überhaupt erst möglich: die Stimmung wurde saube-rer, die Klangfarbe reicher, der Ton größer.
(M.Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen)
(Das Problem der Saitenspannung bei Skordaturen war Biber schon bekannt, er benutzte wahrscheinlich auch bereits unterschiedliche Darmsaiten, wie es später Paganini noch perfektionierte.)
Der große Geiger Jehudi Menuhin spielte die Moses-Variationen immer mit der angegebenen Skordatur, um
ein Maximum an Resonanz zu bekommen.