TROUBADISC Komponisten
Eugène Ysaye
„Ich glaube, dass diese meine Arbeit das Werk ist, welches man erwartet und das kommen musste, weil es die direkte Auswirkung der harmonischen Klänge der letzten 25 Jahre darstellt; es kommt gerade zur richtigen Zeit und erscheint mir für den Fortschritt von Virtuosität und Orchesterkomposition notwendig.“ Eugène Ysaye
Für die hier vorliegende Einspielung der sechs Sonaten konnte sich Renate Eggebrecht auf die Kritische Urtext Edition des Henle Verlags von 2004 stützen, die wesentliche Änderungen des Notentextes aufzeigt. Der Herausgeber Norbert Gertsch schreibt dazu:
Zu allen sechs Sonaten stehen die von Ysaÿes Hand angefertigten Stichvorlagen zur Verfügung. Nicht alle Manuskripte sind datiert. Lediglich Nr. 2 trägt das Datum „Juillet 1923“, Nr. 5 und 6 dagegen „mai 1924“. Die auf den Manuskripten vorhandenen Stempel des Originalverlags bestätigen den Eingang der Stichvorlagen mit März (Nr. 2) bzw. Mai (Nr. 5 und 6) 1924. Da auch die bei Éditions Ysaÿe erschienene Erstausgabe der Sonaten (in Einzelausgaben und schließlich zusammengefasst in einem Band) den Copyrightvermerk 1924 trägt, wurde der Stich der einzelnen Sonaten wohl zügig nach Eintreffen in Angriff genommen.
Wann die ersten Exemplare auf dem Markt waren, lässt sich nicht genau ermitteln. Der Komponist selbst unterschrieb sein Handexemplar des Gesamtbandes, das – wie ein gesonderter Eindruck darlegt – das achte war, das die Druckpresse verließ, allerdings erst mit „Mai 1926“. In der Zwischenzeit hatte Ysaÿe den Notentext von Stichvorlage zu Einzelausgabe und von dort zum Gesamtband intensiv geändert und korrigiert.
Sehr häufig beziehen sich diese Korrekturen auf die letzte Feile an Fingersätzen und Strichbezeichnungen, greifen aber an einigen Stellen auch stärker in die Substanz ein und ändern Tonhöhen und Rhythmus. Der Korrekturprozess stellt eine Fortsetzung des Kompositionsprozesses dar, der allerdings selbst seinen ersten Abschluss nicht erst in den Stichvorlagen gefunden hatte. Wie ein erhaltenes Ar-beitsmanuskript zur 6. Sonate belegt, handelt es sich bei den Stichvorlagen selbst bereits um Reinschriften, denen mindestens eine weitere komplette Niederschrift voranging.
Doch auch mit dem Druck des Gesamtbandes war für Ysaÿe offensichtlich die Arbeit an den Sonaten nicht abgeschlossen. Zeuge hierfür ist das bereits erwähnte Handexemplar des Komponisten, in dem er nachträglich handschriftlich noch an vielen Stellen in den Text eingriff. Diese Korrekturen und Änderungen fanden jedoch seitdem keinen Eingang in Nachdrucke der Erstausgabe – noch heute präsentieren die auf dem Markt erhältlichen Ausgaben den unveränderten Notentext von 1924. Die hier vorgelegte Kritische Edition greift erstmals die über den gedruckten Text hinausgehenden Änderungen in Ysaÿes Handexemplar auf und dokumentiert unter deren Berücksichtigung die eigentliche „Fassung letzter Hand“ des Komponisten.
Kaum ein Werk hätte sich nahtloser an Ysaÿes letzte spanische Sonate Nr. 6 anfügen lassen als das 1944 komponierte Capriccio von Joaquín Rodrigo (1901-1999), der aufgrund des ungeheuren Erfolgs seines Concierto de Aranjuez für Gitarre und Orchester (1939) zum meistgespielten und populärsten spanischen Komponisten seit der Renaissance wurde.
„Ohne in Frage zu stellen, dass jeder eine individuelle Technik anwendet, kann man doch mit Sicherheit sagen, dass derjenige Künstler, der Fingersätze, Strichbezeichnungen, Nuancen und sonstige Angaben des Komponisten genau beachtet, am schnellsten ans Ziel kommt.“ Eugène Ysaye
Eugène Ysaye
...Ysaye's Ziel war es auch, die Persönlichkeit jedes Widmungsträgers zu beschreiben. Die Palette der Charaktere geht von eleganter Strenge (Szigeti, Crickboom) bis zu strenger Eleganz (Kreisler), über rhapsodischen Geist und Witz (Enesco), spanisches Feuer (Quiroga) oder lyrische Zärtlichkeit (Thibaud)...
Michel Stockhem